Ein Zeitungsartikel von Hans Schild, ehem. Sekretär Eduard Ruchti-Fonds,
erschienen zum 90. Todestag von Eduard Ruchti am 10. November 1992.
Eduard Ruchti hat am 10. August 1834 im Hotel Beau-Site in Unterseen als Sohn des Karl Friedrich Ruchti und der Margaretha geb. Rubin das Licht der Welt erblickt. Es waren nicht einfache Verhältnisse, in die der junge Erdenbürger eintrat. Der Vater hatte kurz vorher mit teurem Geld sein Haus erbaut, die Mutter, eine Krämerstochter aus der Spielmatte in Unterseen, war auch nicht mit Gütern gesegnet.
Vater Ruchti war ein ausgezeichneter Gastwirt. Er kümmerte sich unermüdlich mit grosser Sorgfalt um seine Gäste und wusste sie auch mit ergötzlichen Anekdoten zu unterhalten. Mit seinem eleganten Grauschimmel holte er im leichten Korbwägelchen manchen treuen Gast an der Ländte im Neuhaus ab.
Im Jahr 1838, als Eduard erst vier Jahre alt war, starb seine Mutter. Der Vater setzte alles daran, dem heranwachsenden Sohn eine gute Erziehung und Ausbildung zu vermitteln. Im Gastbetrieb seines Vaters hörte er, wie ausländische Gäste von den Naturschönheiten des Berner Oberlandes schwärmten. Hier mag im aufgeweckten Jüngling der Gedanke gekommen sein, dass mit dem Fremdenverkehr ein neuer Wirtschaftszweig von volkswirtschaftlicher Bedeutung für unsere recht arme Gegend erschlossen werden könnte. Schon früh träumte er, etwas Grosses zu schaffen. Es sollte ein modernes Grand-Hotel angesichts der majestätischen Berge sein. Nach Schulaustritt kam Eduard Ruchti in französisches und englisches Sprachgebiet, um sich auf den Hotelierberuf vorzubereiten. Er arbeitete auch in verschiedenen Gastbetrieben im In- und Ausland. 1854 kehrte er in die Heimat zurück. Dort fand er nun ganz andere Verhältnisse vor. Der Vater wollte sich wieder verheiraten. Dadurch wurde dem strebsamen Mann der Raum zu Hause zu eng.
Mit seinem väterlichen Freund Nationalrat Seiler studierte er den Plan, anstelle des Hotel Eigers in Unterseen ein grosses Hotel zu errichten. Es sollte den Namen «Grand Hotel de l’Europe» tragen. Der Voranschlag belief sich für die damalige Zeit auf die sehr hohe Summe von 1'600'000 Franken. Um den Ausblick auf die drei Bergriesen Eiger, Mönch und Jungfrau zu erhalten, beabsichtigte man, die Grundstücke mit einem Bauverbot zu belegen. Dem Bauvorhaben stellten sich grosse Widerstände entgegen, so dass der kühne Plan fallen musste.
Nun richtete Ruchti seinen Blick nach Interlaken. Durch diese Wendung war das Schicksal von Unterseen als Mittelpunkt des Fremdenverkehrs im Bödeli besiegelt.
Nachdem sich Vater Ruchti wieder verheiratet hatte, richtete er an Eduard eine Summe von 25'000 Franken aus. Mit diesem Geld erwarb er die Pension Viktoria am Höheweg, die vom früheren Besitzer arg vernachlässigt worden war. Eduard Ruchti brachte das Geschäft bald wieder zur vollen Blüte. Doch das Haus in seiner alten Form genügte dem initiativen, strebsamen Hotelier nicht. Der Traum des Grand Hotels war tief in der Seele verwurzelt. Mit 31 Jahren liess er den mächtigen Neubau «Viktoria» bauen. Der französische Architekt Davinet, der sich in Bern niederzulassen hatte, schuf die Pläne im Stil der Neu-Renaissance. Im Herbst 1864 begannen die Bauarbeiten, und ein Jahr später stand das Werk vollendet da. Nun hatte Interlaken sein erstes Grand Hotel, und der junge Besitzer war nicht wenig stolz darauf.
Die Führung des grossen Hauses während 30 Jahren brachten nicht nur Sonnenschein. Es gab grosse Sorgen und Kämpfe. Auch er bekam die Krise zu spüren. Regnerische Sommer, politische Spannungen und Kriege im Ausland brachten deprimierende Frequenzverluste. Ruchti benötigte grosse Anleihen, um durchzuhalten. Hunderte hätten Bankrott gemacht, nicht aber Eduard Ruchti. In der Not entwickelten sich in ihm alle Willenskräfte. Wagemutig schritt er unbeirrt vorwärts. Er glaubte an eine bessere Zukunft und vertraute seinem guten Stern.
Hotel und Dépendance wurden ausgebaut und verbessert. In den schlimmen Krisenjahren 1886/1887 verzinste er 1'644'000 Franken in 111 Obligationen zu 6 Prozent. Damit vermochte er die Geldgeber bei der Stange zu halten und ihr Vertrauen zu bewahren. Mancherorts wurden ihm aber auch dringend benötigte Kredite versagt. Als ihm die Schulden so richtig über den Kopf wuchsen, kaufte er zwei prächtige Reitpferde und ritt täglich mit weissem Vorgeschirr aus, wie er selber erzählte. «Ruchti ist wieder da», hiess es, und die Kredite flossen. Bei schlechter Frequenz im Hotel liess er am Abend im ganzen Haus Kerzen anzünden, um den Eindruck von Leben zu erwecken.
Dieser Pionier der Hotel-Industrie im Kanton Bern tat alles, was den Fremdenverkehr fördern konnte. Auch in der Politik suchte er die Interessen seines Standes zu vertreten. 1865 wurde er in den Grossen Rat gewählt. Dieses Amt als freisinniger Grossrat hatte er während 27 Jahren, bis an sein Lebensende, inne. 1886 folgte auch die Wahl in den Nationalrat. Dem Kursaal, der Höhematte, den Licht- und Wasserwerken Interlaken schenkte er sein Interesse und war an der Gründung der meisten Bergbahnen im Oberland beteiligt.
Als Mann der Geselligkeit, der es verstand, Menschen aus aller Herren Ländern in seinem Hotel zusammenzuführen, ging er selber einsam durchs Leben. Seine Ehe, die er 1859 mit Marie Eschmann aus Zürich einging, erwies sich als unglückliche Wahl und wurde schon 1864 geschieden. So musste er auf warme Häuslichkeit und auf die Freude an eigenen Kindern verzichten.
1895 schlug die grosse Stunde für Eduard Ruchti. Das Rennen war gewonnen. Er konnte die «Viktoria» zu günstigen Bedingungen an eine Interessengemeinschaft verkaufen. Sein unerschütterlicher Durchhaltewillen, sein Optimismus, sein starker Glaube an bessere Zeiten hatten sich gelohnt. Am 19. August 1902 setzte Eduard Ruchti mit 1,5 Millionen sein Testament auf. Dieses zeigte deutlich, wo der Entschlafene seelisch verwurzelt war. Nach seinen Verwandten dachte er an zweiter Stelle an die Kinder, an die armen, verlassenen. Er bestimmte ein Legat von 150'000 Franken zur Errichtung eines Waisenhauses im Amtsbezirk Interlaken. Nach dem Ableben des Testators kamen aus dem Erbe noch 50'000 Franken dazu, insgesamt also 200'000 Franken. Das Legat wurde in Obligationen des Hotels Viktoria und der Jura-Simplon-Bahn ausgerichtet. Zur Verwaltung dieses Fonds wurde eine Direktion eingesetzt. Man wollte das Vermögen äufnen, damit nach einem Bau auch noch ein genügendes Betriebskapital vorhanden gewesen wäre. Leider sanken ab 1914 die Aktien, und die Verzinsung wurde zum teil eingestellt. Nachdem sich die Wirtschaftskrise erholt hatte, war es möglich, das Vermögen wieder zinstragend anzulegen.
Auf den 31. Dezember 1919 wies der Fonds durch Zinsen und weitere Schenkungen ein Kapital von 402'000 Franken auf.
In seinem Testament bedachte er auch das Bezirksspital Interlaken und andere wohltätige Institutionen. Obschon ihm Unterseen das Bauen verwehrte, vergass er sein geliebtes «Stedtli» nicht. In seinen kranken Tagen bestellte er in Aarau ein Glockengeläute. Ungeduldig wartete er auf das Eintreffen.
Im Herbst 1902 suchte Ruchti in Ouchy Linderung für sein schweres Darmleiden. Ein berühmter Chirurg in Lausanne konnte sich aber nicht entschliessen, eine Operation vorzunehmen.
Am 10. November entschlief der Kämpfer im Alter von 68 Jahren im Hotel Beau-Rivage in Ouchy. Sein sehnlichster Wunsch, das geliebte Bödeli nochmals sehen zu können, ging nicht in Erfüllung. Die sterbliche Hülle wurde nach Interlaken übergeführt und in der Veranda der «Viktoria» aufgebahrt. Zur gleichen Zeit trafen die neuen Glocken am Westbahnhof ein. Das Geläute wurde auf bekränzte Wagen geladen und durch die Schulkinder von Unterseen im Conter-Zug beim Toten vorbeigeführt. Alle Schulkinder durften anschliessend mithelfen, die Glocken aufzuziehen.
Die Trauerfeierlichkeiten zeigten die grosse Verehrung und Liebe, die dem Verstorbenen geschenkt wurde. Das Volk ehrte den grossen Pionier durch Gesang und Klang von Chören und Blasmusik. In pietätvoller Weise blieben sogar die Geschäfte und Gastbetriebe an den Strassen geschlossen. Die neuen Glocken erklangen erstmals vom Kirchturm her und läuteten dem edlen Stifter ins offene Grab. Seine Ruhestätte liegt einige Schritte hinter der Leichenhalle, geziert mit einem weissen Obelisk.
Als Dankeszeichen liess die Gemeinde Unterseen auf dem Stadthausplatz einen Brunnen, den «Ruchti-Brunnen» erstellen. Als Symbol steht auf dem Sockel ein Kind. Wer dieses gediegene Kunstwerk bewundert, erkennt nun den Zusammenhang mit Eduard Ruchti.
Der Ruchti-Brunnen auf dem Stadthausplatz.
Diese Ausführungen möchten das Andenken an den grossen Wohltäter wachhalten; an einen Menschen, der uns als Vorbild dienen mag, wie er mit seiner wagemutigen, zuversichtlichen Art voranging, neue Wege zu suchen, um seiner Heimat zu dienen. Mit dem Spruch auf der grössten Glocke – der «Sterbeglocke» – schliesse ich diesen Bericht:
Wann müd von diesem Erdenstreit
Du legst dein Haupt zur Ruh
So töne dir mein Sterbgeläut
des Himmels Frieden zu